Verpackt wurde diese neue Regelung im „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens„. Als Anwalt zucke ich schon immer zusammen, wenn ein Gesetz, das in erhebliche Eingriffe in Grundrechte zulässt, „effektiver“ und „praxistauglicher“ werden soll. Denn das bedeutet, dass die Rechte der Betroffenen zugunsten des Verfahrens zurückstehen sollen.
Welche Pflichten haben Zeugen künftig bei der Polizei?
Bisher besteht nur gegenüber dem Gericht oder der Staatsanwaltschaft eine Pflicht zu Vernehmungen zu erscheinen und zur Sache auszusagen. Bei der Polizei konnten Zeugen frei entscheiden, ob sie aussagen wollen. Liegt der Vernehmung durch die Polizei „ein Auftrag der Staatsanwaltschaft“ zugrunde, sollen Zeugen künftig auch bei der Polizei zur Aussage verpflichtet sein. So heißt es in der Gesetzesbegründung:
Um die Staatsanwaltschaft vor dem Hintergrund knapper Ressourcen von sachlich nicht zwingenden Zeugenvernehmungen zu entlasten, ohne damit zugleich ihre Sachleitungsbefugnis im Ermittlungsverfahren in Frage zu stellen, sieht § 163 Absatz 3 Satz 1 StPO-E die Verpflichtung von Zeugen vor, auf Ladung vor Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft zu erscheinen und zur Sache auszusagen, wenn der Ladung ein Auftrag der Staatsanwaltschaft zugrunde liegt. Die Erscheinens- und Aussagepflicht von Zeugen vor der Polizei ist daher von einer vorherigen Entscheidung der Staatsanwaltschaft abhängig.
Es bedarf also eines Auftrags zur Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft. Liegt sie nicht vor, bleibt es wie bisher: Zeuginnen und Zeugen brauchen nicht erscheinen. Wurde die Polizei mit der Vernehmung beauftragt, besteht die Pflicht zu erscheinen und auszusagen. Ein Nichterscheinen hat zur Folge, dass die Staatsanwaltschaft Zwangsmittel anordnen darf, um Zeuginnen und Zeugen zur Aussage zu bewegen. In Betracht kommen die Vorführung durch die Polizei, Zwangsgelder oder auch die Beantragung von Ordnungs- oder Erzwingungshaft bei Gericht. Gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft kann gerichtliche Entscheidung beantragt werden.
Was bedeutet die Änderung für die Praxis?
Bisher konnten schwierige Konfliktlagen, in denen ein Zeuge beispielsweise befürchten musste, durch seine Aussage selbst ins Fadenkreuz der Ermittlungsbehörden zu geraten, teilweise durch ein Nichterscheinen bei der Polizei aufgelöst werden. Dies wird künftig wahrscheinlich nicht mehr möglich sein. Wenn unklar ist, ob ein Zeuge ein Auskunftsverweigerungsrecht hat oder ob ein Zeugnisverweigerungsrecht vorliegt, wird es ebenfalls knifflig. Diese Fälle sind häufiger, als man denkt, nicht aber, wenn man die Verfasser der Gesetzesbegründung fragt:
Rechtsfragen im Zusammenhang mit den Belehrungspflichten über die Zeugnis- und Aussageverweigerungsrecht gemäß den §§ 52 ff., 55 StPO treten zwar nicht häufig auf, weil die Vernehmungsbeamten bei der Polizei entsprechend geschult sind und praktisch sehr viel häufiger Zeugenvernehmungen durchführen als die Staatsanwaltschaft.
Die Polizei weiß in der Regel schon, was sie tut. So viel Vertrauen muss man erstmal haben.
Die neue Regelung dürfte einige weitere Folgeprobleme aufwerfen. Darf die Staatsanwaltschaft für bestimmte Fälle „auf Vorrat“ einen Auftrag zur Vernehmung erteilen, um die Erscheinens- und Aussagepflicht herbeizuführen? Was passiert, wenn die Polizei den Zeugen zur Vernehmung vorlädt und auf die Pflicht zur Aussage hinweist, in Wahrheit aber kein Auftrag der Staatsanwaltschaft vorlag? Sollte eine solche Aussage, bei der ein Zeuge unter falschen Voraussetzungen überhaupt aussagt in einem späteren Verfahren verwertbar sein? Welche Form der Ladung und welche Ladungsfristen hat die Polizei einzuhalten und unter welchen Umständen ist das Erscheinen einem Zeugen nicht mehr zumutbar?
Diese und weitere Fragen dürften in gerichtlichen Verfahren von Bedeutung sein. Meine Hinweise an Zeuginnen und Zeugen werde ich bald aktualisieren und an die neue Rechtslage anpassen. Dabei wird ein Hinweis nicht fehlen: Im Zweifelsfall sollte ein Rechtsanwalt kontaktiert werden.
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